Die Reichenspitze

Carla Haas, 2010

DER MORGEN graut kalt. Meine Hände umklammern den roten Plastikschaber. Hastig kratz ich das Eis von der Scheibe. Schnee rieselt vom Dach. Ich schnaub ihn weg. Meine Haut erstarrt in der Feuchte. Ich zieh die Jackenärmel vor. Wische mit weiten Armbewegungen das Pulver zu Boden. Es stäubt. Auf dem Rücksitz liegen die Handschuhe. Meine Finger sind klamm. Die Haut spannt. Auf den Kuppen und Beugen bilden sich kleine Risse. Mit Verzögerung gehorchen die Hände meinem Hirn. Der Kontakt ist gestört. Tröpfchen Blut rinnen ins Weiß. Ich wisch den Schnee weg. Ameisen in den Fingern kribbeln die Arme hoch. Stechen wie Nägel. Beiss ich auf die Zähne, knirschen sie. Ich halt den Mund geschlossen. Die Kälte steht geballt davor. Nur durch die Nase atme ich. Weite krampfhaft ihre Flügel. Schreckhaft ziehn sie sich zusammen. Streifen der Verkrustung sträuben sich hartnäckig gegen meine flinken Hände. Prustend setz ich mich auf den Fahrersitz. Schlag die Tür zu. Klatsch schwungvoll in die Hände. Sie bleiben starr. Meine Atemwolke nimmt mir die Sicht. Der Zündschlüssel am Anschlag, nichts passiert. Langsam stottert der Motor beim zweiten Versuch, stirbt ab. Ich gedulde mich einige Sekunden. Entschieden dreh ich den Schlüssel. Der Motor heult auf, surrt verdächtig, rattert. Ich gebe Gas.

DAS LICHT nimmt zu. Hinter der Nebelwand leuchtet schwach das Sonnenrund. Die Temperatur verharrt im Minus. Eisblatern schecken die Strasse. Ich mäßige das Tempo. Kraftfahrzeuge spritzen den salzigen Matsch vom Boden hoch. Die Brühe erstarrt in Sekundenbruchteilen auf der Windschutzscheibe. Die Wischanlage verschmiert anstatt zu säubern. Angestrengt starr ich durch die zufällig entstehenden Sichtlöcher. Ducke mich um Kopfeslänge. Recke den Hals. Nicht lange und der gebeugte Rücken schmerzt. Bei der nächsten Tankstelle halte ich. Der Winterscheibenreiniger verspricht Verhinderung der Eisbildung bis minus sechzig Grad und freie Sicht. Ich sprühe die ätzende Lösung auf. Sie wirkt ein. Steigt mir in die Nase und reizt meine Schleimhäute. Alle Autofahrer kämpfen mit den Minusgraden. Keine günstigsten Bedingungen. Mit roten Fingern starte ich, schalte die Heizung hoch, öffne die Gebläse, lege Musik auf. Straßendreck verklebt in kleinen Punkten die Fernsicht. Mein Atem beschlägt die Scheibe von innen. Im Stundentakt halt ich und sprüh die Sicht rein. Die Sonne bleibt verhangen. Vereinzelter Schneeregen weicht die Frostkruste auf. Die Scheibenwischer kippen den Dreck weg. Kurz darauf bildet sich wieder Eis. Und bleibt. Meist ist es trocken.

DER VERKEHR wird dicht. Ich komme schlecht vorwärts. Die A1 zwischen Bern und Zürich strotzt vor Schlaglöchern. Zürich vorbei. Bald St. Gallen. Nach St. Margrethen, die Grenze. Dritter Halt. Die Kühlflüssigkeit steht auf dem Minimum. Ich kaufe welche und fülle nach. Im Kopf geh ich die Route durch. Schlotternd steig ich wieder ein, dreh die Heizung auf, kurbel das Fenster runter. Zur Abhärtung mut ich mir die Kälte zu. Der Weg zieht sich. Komm ich nicht besser vorwärts, wird es Nacht. Dann kann ich nicht in die Höhe. Die Fahrbahn wird breiter. Einige Sonnenstrahlen stelzen durch die Wolkendecke. Der Himmel bricht auf. Ich gebe Gas. Fahr schneller als zulässig. Der Wechsel von Licht und Dunkel ermüdet mich. Im Arlbergtunnel drossle ich die Geschwindigkeit. Berge überall. Hoch aufragend. Bald Innsbruck. Dann ist es nicht mehr weit. Nach der Abbiegung Achensee folgt die ins Zillertal.

DIE STRASSE wird kurvig. John, sag ich mir, schlaf nur nicht ein. Ich schlucke Höhenmeter. Fahr auf Schnee. Die Reifen haften. Die Scheibenwischer quietschen regelmäßig. Der Tag schwindet. Tannen ragen zum Himmel. Föhren oder Arven, frag ich mich. Egal. Links der große Achensee. Keine Abzweigung ins Zillertal. Nur Nacht. Vor dem Grenzzeichen der Europäischen Union brems ich ab. Falsch, falsch, falsch. Das Zillertal liegt südlich. Idiot. Hab ich doch gesagt. Das waren mehr als zwanzig Kilometer, nuschelt Wolf. Halt die Fresse. Genervt wend ich die Blechkiste. Dreh Deutschland den Rücken zu. In harten Wechseln drück ich Bremse und Gaspedal. Pass auf, japst Wolf. Ich krieg jede Kurve, polter ich. Wolf verkrümelt sich. Meine Augen brennen. Weiter, denk ich. Hör nicht auf Wolf. Der checkt nichts. Wär er nicht hier, schlief ich ein.

VON DER WARNSDORFER HÜTTE käm ich per Umweg über die 2666 Meter hohe Birnlücke ins Südtirol der Reichenspitze näher. Im Sommer stärkt ich mich auf der Brinlückenhütte mit Kalterersee und Polenta. Dann folgt ich dem alten Krimmler Tauern Saumweg. Lyrisch asiatisch hoher Berg, steht das Wort hier für den Gang über eine Grenze. Bis zur Beschließung der Europäischen Union ist die Passhöhe auf 2633 Metern beidseitig bemannte Zollstation. Die Italienische Flagge wird immer wieder mit der Südtiroler ausgewechselt. Auch heute noch. Von Norden nach Süden transportieren Säumer Leder, Lodenstoffe, eine Art Jutte, und das Hauptgut Salz. Von Süden nach Norden Gewürze, Südtiroler Wein und Schmuck. Im 18. und 19. Jahrhundert ziehen Bauern nach der Ernte im Oktober und November los. Mit Handel bessern sie ihr Gehalt auf. Scheuen sich nicht vor den Elementen. Die Wanderer bleiben in den warmen Stuben. Die Gewichtseinheit Sam sind je 75 Kilogramm links rechts auf ein Pferd gepackt. Von Schmugglern red ich nicht.

DIE DUNKELHEIT nimmt mir die Sicht. Wolf schweigt mürrisch. Statt gegen Süden sind wir nach Norden abgebogen. Die Strasse ist schlecht über den Gerlospass, sagt mir der Tankwart. Letzte Nacht war Wind und Sturm. Bitte volltanken. Passt, gibt er zurück und hantiert mit dem Schlauch. Die Litermenge und Eurozahlen drehen sich. Das Tanksäulenglücksspiel. Dacht ich als Kind. Versunken starr ich auf den Kreisel. Er ist mein Verhängnis. Wag ich es und die Passstrasse ist gesperrt, muss ich den Morgen abwarten. Die Strasse über Kietzbühel und den Pass Thurn nach Mittersill ist trocken, meint der Tankwart locker. Wolf murrt. Er hat Hunger. Ich sage nichts. Mein Magen knurrt auch.

WIR FRESSEN Kilometer. Das Ziel verrutscht. Ich fahre drum herum. Tausende Juden meiden im Spätsommer 47 die von Engländern und Franzosen besetzten Zonen. Den Vernichtungslagern und ihren Folgen entkommen, haben die Displaced Persons Erez Israel als Ziel. Sie kehren Europa den Rücken. Von Kietzbühels Hahnenkamm mit seiner Adrenalin heischenden Abfahrtsstrecke seh ich nichts. Jeder Skifahrer ist froh, kommt er ans Ziel. Ohne gebrochene Knochen. Erreich ich Krimml, atme ich auf. Wolf schweigt. Er hat sich verabschiedet. Der Exodus entspringt in Polen und wuchert in ganz Europa. Der Franzos und der Engländer versperren die Übergänge nach Süden. Andere Schlupflöcher finden sich. Eines ist im Spätsommer 47 der Krimmler Tauern. Die Amerikaner sehen weg. Wär ich am Weg, säh ich, das Schuhwerk der Flüchtlinge ist berguntauglich. Die Kleidung, zu leicht. Der Zug schleicht langsam die Hohen Tauern hinauf. Von der Gegenseite käm ihnen in einer Frühsommernacht das Südtiroler Vieh entgegen. Wohin gehn all die Tiere. Die letzte Hürde der Natur nach Schändungen und Demütigungen ist der schon von Römern genutzte Alpübergang. Auf der Passhöhe ragt ein Kreuz zum Himmel. Wer trägt es. Die Frage ist der Preis für den Weg Hinaus. Im Himalaya nähern die Menschen sich mit Steinmännern den Göttern. Jeder legt seinen Stein auf den letzten. Der Weg öffnet sich. In Genua wartet das Schiff. Kaum einer würde sich den Aufstieg durch das Krimmler Achental über den Krimmler Tauern noch einmal antun. Die Juden ziehn weiter. Einige von Palästina nach Amerika. Das gelobte Land ist ein unruhiges Pflaster.

DAS SÜDTIROLER VIEH steigt zu den Krimmler Achentaler Almen ab. Früher vierzehn, werden jetzt noch zwei im Sommer von Südtiroler Bauern betrieben. Die Tiere fahren heute in Lastkraftwagen den Umweg über den Brenner. Sie haben im Winter und Frühling zu wenig Auslauf. Sommer und Herbst verbringen sie im Krimmler Achental. Die Krimmler Ache durchfließt die vom Mensch gerodete Ebene. Bisweilen büchst sie aus. Tritt aus den Fugen und sprudelt ungeduldig talwärts, über die drei Stufen der Krimmler Wasserfälle. Im Winter stürzt sich das Wasser in Bewegung, zu Eis erstarrt, in die Tiefe. Nur einzelne halten es auf einem Bild fest. Die Reisenden kommen, sobald es taut. Im Spätsommer 1987 reißt die Ache Holz, Felsbrocken und allerlei Getier mit. Im Tosen dröhnen die Rotorblätter eines Hubschraubers. Er birgt die Wirtsleute des Krimmler Tauernhauses und deren Gäste. Das Jungvieh wartet dichtgedrängt auf der Brücke auf ruhigere Stunden. An Allerheiligen erklimmen die Tiere den Hohen Tauern. Sie stapfen durch Schnee. Trittsicherer ist die weiße Decke als ungestümes Geröll. Die Alttiere kennen den Weg. Um zwei Uhr nachts bricht der Zug bei Vollmond auf. Gegen zehn ist er auf der Tauernpasshöhe. Ziehn sie los, eilen Helfer hinzu. Der Abschied ist ein Fest. Der Glocken Hall scheppert fröhlich durch das Tal. Mit der Stille hält hoher Schnee und der bitterkühle Winter Einzug. Die Displaced Persons gehen lautlos durch die Nacht. Von ihnen spricht kaum einer.

DAS KRIMMLER TAUERNHAUS kann ich mir heute abschreiben. Da komm ich nicht hoch. Schon gar nicht zu Fuß. Ich kenn die Gegend nicht. Verstrick mich im Wegnetz. Mit Krimml werd ich Vorlieb nehmen müssen. Die Sicht ist zu. Eine Wand weißer Watte schwimmt mir im Dunkeln vor Augen. Flocken tanzen auf die Scheibe. Ich acht nicht auf sie. Unbill und Müdigkeit sprudeln aus mir heraus. Was ich tu, bringt nichts. Anstelle Höhenmeter abzulaufen, fahr ich auf Asphalt Kilometer ab. Das einzige ganzjährig bewohnte Haus im Krimmler Achental wird nicht mein Lager sein. Das Ziel ist verrutscht. Jetzt merk ich. Ich hab eins. Die Reichenspitze. Schnee und Wind frieren meinen Ehrgeiz ein.

ÜBER DEN KRIMMLER TAUERN käm ich über die Windbachscharte zur Richterhütte. Vor hundert Jahren wählt der Gast zwischen diversen Zigarrensorten und feinsten Single Malts. Jetzt schlürft ich gern einen rauchigen Caol Ila, qualmte eine Romeo y Julieta dazu und pickte feinen Speck mit Brot. Wolf schnalzt mit der Zunge. Tut er immer, wenn ihm nicht geheuer ist. Reisen verrückt die Grenzen. Ich steh mir auf den Füssen. Dafür bin ich zu weit. Keine Erwartungen heischen. Dann klärt sich die Sicht. Die Reichenspitze säh ich schon gern. Das ist eine. Warum gerade sie. Es gibt noch 121 andere Spitzen. Falls der Himmel sich öffnet. Das wird er. In meinem Kopf oder vor meinen Augen. Einerlei. Neuchkirchen. Wo schlafen wir, quietscht Wolf. Werden schon was finden, antwort ich spröd. Morgen mach ich mich kundig. Von der Richterhütte soll die Reichenspitze mit den Augen bei Sonnenschein zu fassen sein. Das letzte Stück Aufstieg über nackten Fels am Seil fordert im Sommer solide alpine Kenntnisse. Vergiss es, denk ich. Jetzt ist Winter. Da ist nichts zu machen.

KRIMML rechts abbiegen. Die Strasse ist schneebedeckt. Die Hinterreifen scheren aus. Der Wagen schlenkert. Ich dreh das Steuer in Gegenrichtung. Wolf japst auf. Spinnst du. Ruhig Blut. Alles klar. Keine Panik. Bitte. Malerische Häuser und ein spitzer, überdimensional hoher Kirchturm stechen weiß in die Nacht. Ich fahre durch den Kern. Er ist das ganze Dorf. Rechts den Berg hinauf. Im dritten Haus nähern sich Schritte, als ich klingle. Die Dame weicht scheu zurück. Wolf. Benimm dich. Der Schlüssel in meiner Hand öffnet hinter der Tür auf ein Bett. Ein Klo. Eine Dusche. Ich streck mich aus und schau mir ins Gesicht. Müde seh ich aus. Erleichterung zeichnet weiche Züge. Nach einer Pizza und einem Glas Wein übergeb ich mich den Träumen.

FRÜH AM MORGEN leckt Wolf mir den Arm. Der Fensterblick rahmt winterlichen Reiz. Manch einer reist Tage, um im Zauber zu sitzen. Schillernd ragen die Kogel auf in der Sonne. Blau gekrönt und Tannen übersät. Verschiedenförmige Spitzen auf allen Seiten und knirschende Schritte im Schnee. Ich steh auf. Stell mich nackt unter den heißen Strahl. Er weckt meine Geister. Semmeln und Butter zu schwarzem Kaffee tun das Übrige. Die Karte erschließt mir die Landschaft. Die Bilder fehlen. Die Eindrücke sind Papier. Der Berg fordert seinen Weg. Der Umwege, genug. Wolf schnürt die Schuhe. Brav wartet er auf das Zeichen. Ich wandere zurück nach Neukirchen. Schichten Kleider und Fett auf der Haut. Die Temperatur weilt im Minus. Lawinenpipser, Schaufel und Erfahrung sind ein Muss. Die hol ich mir. Der Weg zur Warnsdorfer Hütte im oberen Ostwinel des Krimmler Achentals ist wenig abwechslungsreich. Geradeaus und das letzte Stück steile sechshundert Höhenmeter ansteigend. Die Reichenspitze ist nur von der Dreiherrenspitze zu sehn. Wolf murrt. Schon gut. Das westliche Rainbachtal steigt stetig. Die Lawinengefahr ist mäßig. Die Kälte wird die Herausforderung sein. Heute minus fünfzehn Grad. Morgen ist noch kälter angesagt. Mit Sonne. Das Vorhaben ist verrückt. Nicht unmöglich. Wagen wir es. Abgemacht.

DER BUS geht um fünf. Handschuhe, Kappe und Sonnenbrille verschließen mich. Stimmen und Klänge dringen dumpf an mein Ohr. Der Rollkragen über dem Kinn richtet den Hals auf. Nur der Mund verschwendet wärmende Atemwolken. Wolf lauscht aufmerksam jeder Bewegung. Ich bin in mich gekehrt. Die Kälte beschränkt. Genaues Abmessen der Schrittlänge. Mäßig ausholen. Das Knie nicht zu hoch heben. Keine langen Pausen einlegen. Der Wärmeverlust ist zu massiv. Heißen Tee mittragen. Nicht zu schnell gehen. Schwitzen ist fatal. Der Hitze folgt gefahrbringende Abkühlung. Erfrieren ist nicht mein Tod. Eine zappelige Unruhe zieht durch meinen Körper. Meine Muskeln sind gespannt. Zum Sprung bereit. Das Raupenfahrzeug rattert langsam die neue Strasse hoch, den Krimmler Wasserfällen entlang. Vor wenigen Jahrzehnten noch wird das zum Leben Notwendige in Tragkörben geschultert. Der in Stein gehauene Tunnel verschluckt die Sicht auf Zirbeln im Schnee. Das helle kleine Loch tanzt auf und ab, wird größer und gibt uns wieder frei. Wolf sitzt artig. Er schaut. Dunst verklärt die Sicht. Lustiges Geplapper erfüllt den Raum. Stimmen nähern sich einander mit Bekanntem an.

ES DUNKELT. Das Krimmler Achental liegt still da. Kein Laut, nur unsere eigenen Schritte. Vielleicht gluckst in ihrem Eisbett die Ache. Die Berge thronen vor dunkelblauem Firmament. Ihr Mantel aus Schnee glänzt, über ihnen im Schwarz die Sterne. Das Krimmler Tauernhaus ist eine stattliche Siedlung im leeren Tal. Nur die Wirtsleute hausen hier im Winter. Der Weg fordert Willen und Körper. Mit ihren Kräften herrscht die Natur. Der Mensch harrt aus. Sein Kopf braucht Futter. Geschichten drehen sich in den Mündern. Wein schäumt sie auf. Kaffee dämmt die Wogen. Die Stube knarrt. Das Holz ist wettergekerbt. Die Haut altert erhaben mit Falten und Ritzen. Fünfeckige Sterne versprechen Gesundheit und wehren Dämonen ab. Dem Bösen versperren sie den Weg. In einigen Pinselstrichen streiten zwei Frauen sich um eine Hose. Welchem Mann gehört sie? Kreise umfassen Punkte. Vollkommenheit umschreibt die Seele. In der Natur ist jeder nur eine Linie und endet in sich selbst. Durch die Natur. Demut vermählt sich mit Aberglauben. Auch hier an den Wänden verlässt das Vieh die Almen. Die Glocken klingeln fern und Metallgeklirr mischt sich dazu. Kriegsmüde Männer werfen ihre Waffen am 28. April 1945 in die Büsche. Fröhliche Buben spielen das alte Spiel. Räuber flieht vor dem Polizist. Hier mit scharfen Waffen. Eine Brieftasche wartet auf dem Gestell in der Ecke auf seinen Besitzer. Er wurde abgeführt. Die Wärme in Küche und Stube trügen über die Einsamkeit und die Abgeschiedenheit hinweg. In meinen dicken Hosen schwitze ich. Graukäs von Schokolade umfasst zergeht mir auf der Zunge. Wolf schmatzt freudig und schlägt sich mit Apfelstrudel und Palatschinken voll.

DAS SECHSUHRGELÄUT schüttelt mich aus dem Schlaf. Wolf hört nichts. Er grunzt zufrieden. Im Traum rennt er Gämsen hinterher. Sie zersetzen sich in seinem Bauch. Das gestrige Mahl mundete köstlich. Mein erstes Wild. In der Luft zabberln Wolfs Beine. Kleine Schreie durchschneiden die Nacht. Ich packe Schokolade, Vitaminriegel und Landjäger in meinen Rucksack. Die Wirtin wird die Thermosflasche mit gezuckertem Tee füllen. Zwiebelartig hüll ich meine Wärme in Schichten. Nur Wäsche vom Vortag trag ich. Soll Blasen verhindern, sagt Wolf. Ich weiß es nicht und will ihm glauben. Ob ich den Aufstieg schaff. Ich kenn die Kälte über Stunden nicht. Weiß nicht, wie ihr standhalten. Die Angst weicht dem Willen, die Spitze des Reiches zu sehen. Mich ihr zu nähern. Um sieben knabbert sich blaue Helle durch das Schwarz. Die Luft ist kristallklar. Ich freu mich, sie mit Schritten zu durchschneiden. Müsli und hofeigene Milch schaffen den Boden dazu. Kaffee muntert mich auf. Bei der Kappelle seh ich die Zeiger auf sieben Uhr vierunddreißig. Die Zeit verliert Wert. Die Sonne gebietet. Wir stapfen los. Die Schneeschuhe knirschen im hohen Schnee. Der Gang von Enten den Berg hinauf. Die Steigung ist steil. Ich drossle das Tempo. Meine Bewegungen richte ich nach meinem Atem aus. Das Herz schlägt regelmäßig den Takt. Ziel ist nicht schnell und doch schnell genug vorwärtszukommen. Nicht schwitzen und nicht abkühlen. Wolf jagt durch die Zirbeln, die wir in der Schweiz Arven nennen.

WIR DURCHSCHREITEN eisige Schatten. Überlebenskünstler der Natur, treiben die Zirbeln ihre Wurzeln dahin, wo sie finden, was sie brauchen. Das Tal windet sich zwischen den Bergfüßen hindurch. Büsche und kleine Föhren liegen auf dem Schneeweg. Löcher klaffen sekundenschnell auf. Ein Bein klemmt in der Tiefe. Wolf gräbt mich fürsorglich aus. Herbe Spitzen ragen weißgekrönt ins wolkenlose Himmelblau. Das Morgenlicht schattiert die Farben weich. Die Reichenspitze steht leicht hinter dem Gabler. Er eskortiert sie. Ein dunstiger Schleier umflockt ihren Gipfel. Ich geh weiter. Meine Schritte verrücken den Berg. Nähe tauscht sich mit Ferne ab. Das Spiel der Ansicht lässt mich frohlocken. Wärme pulsiert im Kopf und in den Zehn. Wolf komm, sieh, wie schön. Der Wald. Dort einige Gämse. Nein, Wolf, bleib. Lass sie. Wolf sprengt senkrecht den Hang hinauf. Der Übermut ist stärker als das Haushalten mit seinen Kräften. Das ist Leben. Ausschreiten ist Verschwendung. Meine Kraft verpufft. Ich saug die Schritt für Schritt verrutschenden Bilder in mich. Sie richten mich auf. Bereichern mich mit Luft und Farben. Der Grund gleitet manchmal auf Eis ab. Das Poltern des Rainbachwassers unter mir hallt in meinen Gliedern. Ich erschauere. Gewalt und Schönheit. Kein Diamant glitzert wie kristallener Schnee in der winterlichen Höhensonne.

WOLF FOLGT MIR auf Schritt und Tritt. Die blinkenden Hotelschriftzüge laden in Gerlos zum Verweilen ein. Geld ist der Preis. Ich seh weg. Die Linie. Ein wandernder Punkt. Um ihn dreh ich mich. Schöpfe von Allem in jeder Bruchteilsekunde. Klein bin ich. Niemand kommt uns entgegen. Der Weg ist von unseren Schritten flach getretener Schnee. Ich überschreit eine Grenze. Das Atmen dünner Luft in klirrender Kälte ist ein Aufstieg in mir. Die Richterhütte: eine geschlossenen rote Tür siebenhundertzweiundfünfzig Meter höher gelegen als das Krimmler Tauernhaus an einem Samstag im Februar zehn bei einer durchschnittlichen Temperatur von minus zwanzig Grad. Beim Abstieg flieg ich durch weißes Pulver. Dünne Luft reichert sich bei fallenden Höhenmetern mit Sauerstoff an. Weit offen speisen Farben an der Grenze des Wahrnehmbaren meine Augen. Schattengrün auf hellem Grauweiß. Um zwei Uhr nachmittags nimmt der Tag ab und bittet die Kälte herzu. Rauhe Luftströme durchziehen das Tal. Der Weg drallt sich im Abfallen zusammen. Gleichzeitig dehnt er den Aufstieg im Unwissen. Noch einmal rollt das Auge alles auf. Sieht Gleiches anders und prägt die Kehrseite ins durchlüftete Hirn. Der Hof lädt zu Kaffee und Kuchen ein.

GLÜCKSTRÄNEN. Ich schließ das Fenster. Wolfs warmer Atem auf der Haut rieselt mich in tiefen Schlaf. Die Linie ist ein Kreis. Eisblumen blühn zum Valentinstag.  


Presse
Bücherrundschau 2010
„Die 15. Ausgabe von Quart enthält zahlreiche weitere lesenswerte Beiträge, und jede Seite der aufwändig gestalteten Zeitschrift wird dem hohen Anspruch gerecht, Kultur aus und für Tirol in all ihrer Vielfalt einen angemessenen Rahmen zu bieten. Eine Zeitschrift, der man weite Verbreitung wünscht!“ Bücherrundschau „Die 15. Ausgabe von Quart enthält zahlreiche weitere lesenswerte Beiträge, und jede Seite der aufwändig gestalteten Zeitschrift wird dem hohen Anspruch gerecht, Kultur aus und für Tirol in all ihrer Vielfalt einen angemessenen Rahmen zu bieten. Eine Zeitschrift, der man weite Verbreitung wünscht!“ 

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